Delicatessen

– Ende Oktober, hast Zeit?
– Klar, da nehm ich mir Zeit!
– Was machen wir?
– Da schauen wir noch.

Was machst mit einem Bergführer im Herbst? Kannst ihn ja schlecht nach Bleau schleppen. Es war klar, da muss was Hohes her. Am besten was schweres auch noch. 
Verdon? Definitiv die richtige Richtung, aber um die Jahreszeit? Klettern in Daunenjacke, frieren im Bus, Geier die nur auf ein halb gefrorenes Häppchen wie uns warten? Besser doch noch weiter in den Süden.
Schon vor langer Zeit, als mir die ersten Berichte von Korsika über den Bildschirm kamen war klar, da muss ich hin. Tofani Überhänge, ausgewaschener (oder doch ausgeblasener?) Granit, Berge mit Blick aufs Meer, fast zu gut um Wahr zu sein. Eine Tour stand dabei ganz Oben auf der Wunschliste. Eine beeindruckende Wand, durch deren zentralen Teil nur eine einzige Route führt. Nur eine Linie bietet genug Löcher, Risse und Tofani Strukturen, verbunden mit gnadenlosen Plattenstellen, um sie frei klettern zu können. Die Punta di u Corbu mit ihrer utopischen Delicatessen.
150 Meter, 6 Seillängen, Schwierigkeiten bis 8b. Damals noch ein Wunschtraum, doch nach vielen Wintern im Boulderkammerl ein realistisches Ziel.
Die Route wurde 1992 von Arnaud Petit und Stephane Husson von unten kommend, technisch eingebohrt und musste dann neun Jahre warten, bis sie bereit waren sie frei zu klettern. Erst weitere 10 Jahre später bekam sie dann ihre zweite freie Begehung. Etwa um diese Zeit muss es auch gewesen sein, dass ich das erste Mal von der Tour gehört habe. Mittlerweile gehört sie zwar bei weitem nicht mehr zu den schwierigsten, aber noch immer zu den schönsten, schweren Mehrseillängen Routen der Welt. 
Genau dorthin soll es also gehen!

Es geht los!

Die Fähre war gebucht und zwei Tage später stechen wir in See. Von Livorno nach Bastia in knapp 4.5 Stunden, genug Zeit also für Lesen, Schlafen und zwei Partien Schach. Beide verloren, ein Bergführer im Lockdown hatte genug Zeit zum Trainieren.
Von Bastia noch etwa zwei Stunden Fahrt und wir sind in der Bavella. Es ist schon stockdunkel und ich kann es kaum erwarten, bei Tageslicht endlich die Kulisse um uns zu sehen. Ich sollte nicht enttäuscht werden. Aus der Schiebetür des Busses tut sich ein Panorama aus Granitnadeln, durchlöchert von Tafoni, auf und dazwischen graben sich azurblaue Flüsse durch Canyons. Wir müssen dort rauf, sofort! Schnell noch eine für nicht-Italiener normalerweise letale Dosis Espressi runtergeschlungen und los gehts. Das Ziel ist klar – ohne Umwege zur Delicatessen!
Ohne Umwege geht sich leider nicht aus. Die Zustiege auf Korsika sind alle mit Steinmännern markiert, doch es gibt viele davon, sehr viele. Schnell wird einem die begrenzte Hilfe von Steinmännern klar, wenn bei jeder Weggabelung in alle Richtungen Steinhaufen auf einen warten. Nach ein paar Exkursionen durch Dornenbüsche und anderes Unterholz finden wir schlussendlich „unsere“ Steinmandln und kommen völlig durchgeschwitzt an der Punta di u Corbu an. Was für eine Wand! Sicher die beeindruckendste durchgehende Wand hier weit und breit. Den richtigen Einstieg zu finden ist auch nicht schwer, es gibt ja nur eine Tour. 
Genau dort hat sich ein Baum breit gemacht. Vor uns kommende Aspiranten haben schon ein paar Äste umgeknickt, mit dem Ergebnis – viele spitze Pfähle die bei einem Sturz schnell ungemütlich werden könnten. Klarer Fall für den Pocket-Boy. Schnell war der halbe Baum umgesäbelt und gibt Blick und Sturzraum frei. Es kann losgehen!

Erster Felskontakt

Dichter Nebel lässt das Magnesium schon am Weg zum Felsen von den Fingern verschwinden, aber die Motivation ist größer. Gleich die erste Seillänge ist die Schlüssellänge, sehr dankbar, da man gleich weiß woran man ist und es sich mehr nach Klettergarten anfühlt.

Ein paar Seit- und Untergriffe bringen einen in eine schlauchartige Struktur. Tritte, Mangelware. Nicht schwer aber trickreich geht es an diesem entlang und man kommt zur ersten Crux, ein athletischer Boulder auf Slopern und unsicheren Reibungstritten. Eine vorläufige Lösung ist schnell parat, fühlt sich aber bei den feuchten Verhältnissen unverhältnismäßig schwer an. Ein Runout führt danach zu einem bequemen No-Hand rest, Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite wird man den ganzen Pump los, auf der anderen Seite hat man viel Zeit zum Überlegen was einen noch erwartet, ein ziemlich unsicherer Plattenquergang. Wozu nochmal das ganze Campusboarden? Zwei gute, sehr weit auseinander liegende Tritte stellen sich schnell als Sackgasse heraus. Das Micro-Chip für zwei Finger ist einfach zu schlecht um den linken Haxen nachzuhieven. Es bleibt nichts anderes übrig, als zuerst mit dem rechten Fuß und dann mit dem Linken auf fast nichts anzureiben, um erst dann den erlösenden Tritt rechts zu erwischen. Für die Hände gibt es dafür nur das Micro-Chip und eine Unebenheit daneben, die man mit viel Fantasie Griff nennen kann. Stefan entscheidet sich für Zweiteres, ich nehme das Chip. Danach noch ein paar wackelige Züge bis zu den Henkeln vorm Stand, nichts das einen aufhält, hat man die Stellen davor erledigt.

Weiter geht es mit einer 7c+ Länge. Pressige Untergriffe entlang eines Viertelkreises führen in strukturierteres Gelände und man darf kurz Tafoni-Sinter und kopfgroße Löcher genießen. Vor dem Stand noch einmal konzentrieren, einen miesen Aufleger ausquetschen, manteln und damit steht auch der Plan für die zweite Länge.

In der Dritten, einer 7c, geht es gleich nach dem Stand zur Sache. Mit kaum Tritten, kann man nur dem Gummi vertrauen und eine fragil wirkende Schuppe durchdrücken, um zum guten Riss zu kommen. Bleibt zu hoffen, dass sich die nie verabschiedet. In der Rissverschneidung muss man dann noch einmal gut anpressen, bevor einen ein ausgesetzter Mantel zum nächsten Standplatz in einer riesigen Tafoni Höhle bringt. Optimismus auch für diese Länge.

Als abschließende harte Länge wartet noch eine 8a Platte. Nicht gerade mein Traum, aber schlussendlich will jeder von uns alle Seillängen an einem Tag Rotpunkt klettert. Ich habe also keine Wahl. Mittlerweile hat es aus den dicken Wolken zu regnen begonnen und nachdem sich Stefan ein paar Mal an der nassen Platte versucht hat, treten wir den Rückzug an. Mit der Hoffnung – Es wird schon irgendwie gehen – bin ich eigentlich ganz froh, mir nicht noch die letzte Haut von den Fingern schälen zu müssen.

Beim Abstieg lernen wir den Unterschied von trockenen Granit Schildern, auf denen man schnell Höhenmeter machen kann und nassen Granit Schildern, quasi Rutschen. Die letzten Meter zum Fluss fallen steil ab und man traversiert auf einem schmalen Band durch die Wand. Ausrutschen ist keine Option.

Active rest days are best days

Die Hoffnung am nächsten Tag gleich nochmal zur Delicatessen zu starten wird schnell verworfen, zu dünn ist die Haut auf den Fingern. Alternativ gehen wir die Aqua in Bocca, eine 9 Seillängen 7a auf dem der Punta di u Corbu vorgelagerten Felshaufen. Der kürzere Zustieg freut meine geschundenen Sportkletterer Beine, die breiten Risse freuen Stefan. Die 7a Plattenlänge war noch ein Heimspiel, doch dann gingen meine Probleme los. Drei Längen mit Schulter- bis Körperbreiten Rissen. Mein Albtraum. Alle Ambitionen über Bord werfend schleppe ich meinen Kadaver halb technisch bis zu den Ständen, während der Yosemite-geeichte Stefan es erstaunlich einfach aussehen lässt. Die letzten drei Längen dann wieder Platten bis maximal 6b und ich hoffe, dass die Schwierigkeiten auf Korsika nicht linear skalieren, denn wie soll eine 8a Platte noch griff- und trittloser sein als diese.

Die Landschaft auf Korsika ist ein Traum. Die ganze Insel sind quasi Berge die direkt aus dem Meer ragen. Die Fauna ändert sich schnell am Weg ins Landesinnere. Vom Strand mit Palmen, Kakteen und Olivenbäumen geht es steil bergauf über Edelkastanienwälder bis zu vom Wind verformte Föhren. An den Rasttagen hat der Herbst den Vorteil, dass das Meer noch warm genug zum baden ist und selbst an Regentagen die Temperaturen kaum unter 15 Grad sinken. Da die Campingplätze fast alle mit erstem Oktober schließen, wird wild campen toleriert, was einem viel Herumgefahre erspart. Zum Glück, denn die Straßen im Bavella sind alles andere als Autobahnen.

Beseitigen der letzten Fragezeichen

Nach einem Rasttag am Meer geht’s wieder zurück ins Projekt. Diesmal ohne Nebel, dafür mit brütender Hitze. Die Südostwand heizt sich schnell auf, und selbst als der fast obligate Nebel am Nachmittag einsetzt bleibt der Fels heiß. Mehr als Züge auschecken und einschleifen ist nicht drin. Dafür können wir diesmal die Platte oben und die abschließende 6c probieren. Für meine Körpergröße gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder auf schlechtesten Griffchen und miesen Tritten herumeiern oder einen gezackten Seitgriff (Haifischmaul) niederprügeln, so hoch es geht ansteigen und durchblockieren. Bei den warmen Verhältnissen würde ein Abrutschen mit einem gewaschenen Cut enden. Für Stefan bleibt nur die Eierei. Die 6c Länge ist bis auf einen Block der drohend genau über dem Stand liegt, nicht der Rede wert. 
Leicht rechts versetzt von der Originallinie soll es mit zweimal abseilen zum Stand unter der 8a gehen. Es stellt sich heraus, dass im Führer nicht nur Zustiege schlecht erklärt sind, sondern auch die Abstiege. Der erste Abseiler ist gleich 40 m, ein Problem mit unserem 70 m Einfachseil. Zum Glück kennt Stefan alle Seiltricks am Markt und mit „Karabiner gegen Kettenglied“ geht’s zumindest bis zum nächsten Stand. Um das Seil abziehen zu können, werden alle Reepschnüre und Bandschlingen zusammengeknüpft. Problem erkannt, Problem gebannt. Das restliche Abseilen ist bis auf ein paar Pendler business as usual.
Nach dem Tag ist klar, wir können das Ding klettern, aber es wird ein Zittern um die richtigen Verhältnisse.

The game is on!

Nach einem gemütlichen Tag an der Punta di Peru und einem Regentag stehen wir wieder am Einstieg der Delicatessen. Es ist gut, sogar sehr gut. Nachdem wir beide einmal beim Boulder unten abtropfen, schaffen wir ihn im zweiten Versuch, doch die Plattenquerung oben wehrt sich noch. Es wird spannend. Stefan kämpft sich noch einmal über die Aufleger. Bei der Querung hat man keinen Sichtkontakt und ich gebe langsam mehr und mehr Seil aus, bis es klar wird, er ist drüber! Jetzt liegts bei mir. Ich wälze mich durch den Schlauch, Sloper durchwechseln, weiter Zug auf eine Leiste, schlecht erwischt, trotzdem den Hook gelegt und zack, schon spannt das Seil. Verärgert über mich selbst ziehe ich mich zum Stand hoch und fixiere das Seil. Stefan jumart nach, jetzt ist sein Weg nach oben frei. Die 7c+ und 7c Längen erledigt er ohne Probleme und schnell sind wir am Stand der 8a. Die Verhältnisse sind wieder etwas feuchter, aber noch immer besser als die Tage zuvor. Stefan lässt nichts anbrennen und gleich im ersten Versuch marschiert er die 8a hoch. Es ist geschafft! Die 6c ist eher pro forma und wir stehen am Gipfel. Alle Längen Rotpunkt und bis auf die 8b, sogar gleich im ersten Versuch. Starke Leistung!

Dann kam der Regen… Die Prognose lautet: zwei Tage Regen, vielleicht einen Tag besser, dann wieder Regen. Ich will noch nicht den Hut drauf hauen, darum bleibt das Material oben und wir sitzen die Regentage aus. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Wetterprognose ändert sich stündlich und genauso oft checken wir auch, ob es nicht doch besser wird als gedacht. Nichts da. Die Regenwahrscheinlichkeit steigt und Wind bis zu 100 km/h sollen es werden. Egal, ich will das Teil klettern, wenns geht geht’s, wenn nicht komm ich wieder. Ersteres wäre mir lieber.

All in, we’re out!

In der Früh merken wir gleich, der Wind war keine leere Drohung. Die Palmen biegen sich in alle Richtungen und das Meer peitscht erstaunlich heftig in den Hafen. Vielleicht sind die Tafoni doch eher ausgeblasen als ausgewaschen? Die Straße hoch zur Bavella ist voller umgeknickter Bäume und Steine, die vom Hang gespült wurden.  Aber es ist trocken!
Am Einstieg angekommen war klar, der heutige Tag ist ein Geschenk. Der Regen hat die ganze Feuchtigkeit aus der Luft gewaschen, der Westwind trocknet Fels und Haut und dank der Südost Ausrichtung der Wand verirrt sich nur gelegentlich eine Böe zu uns. Die Tour fühlt sich um zwei Grade leichter an. Aus Slopern werden Henkel und auch die Trittchen halten erstaunlich gut, ist der Gummi hart. Ich klettere gleich bis zur Plattenquerung, setze an, stehe auf dem guten Tritt, aber wo sind die Griffe? Sturz. Der Regen hat alle Tickmarks weggewaschen, und die Mikrostrukturen sind ohne Chalk nicht auszumachen. Schnell ein paar Striche an die Wand und nächster Versuch. Wieder gleiche Situation, nur dass diesmal mit mir auch das Zweifinger Chip aus der Wand fällt. Fuck! Ohne dem wird’s richtig hart. Wieder hochgezogen zu der Stelle merke ich, dass die Bruchkante sogar einen Tick besser ist als das Original. Freude auf der einen, schlechtes Gewissen auf der anderen Seite, will man so eine klassische Linie eigentlich nicht verändern. 
Der nächste Versuch sitzt und erleichtert geht’s weiter mit den beiden „leichteren“ Längen, die mittlerweile bestens eingeschliffen sind. Mittlerweile ist der Wind so stark, dass nur noch mit Daunenjacke geklettert wird. Da hätten wir auch ins Verdon fahren können. 
Es wartet noch die 8a. Auch hier, keine Tickmarks weit und breit. Das Haifischmaul wird aufgestellt was das Zeug hält und schon bin ich über der Crux, danach eigentlich nur noch wackeliges herumsteigen und stützen, aber ich finde keinen einzigen Tritt mehr. Einmal falsch angestiegen und ich stürze. Kein wirklicher Stress, bei den heutigen Bedingungen ist klar; die Stelle schaffe ich heute so oft wie nötig. Ein paar kritische Griffe und Tritte markiert und zurück zum Stand. Kurze Pause, eher für die Füße als für die Arme und im zweiten Anlauf passieren mir keine Fehler mehr. Wie lange fantasiere ich schon von dieser Tour? Ich freue mich riesig! 

Das Wetter soll wieder schlechter werden, aber das kann uns egal sein. Wir buchen noch am selben Abend die Fähre, gönnen uns eine Pizza am Straßenrand, stoßen mit einem Pietra an und am nächsten Tag treiben wir schon in Richtung Italien. 
Die korsischen Delicatessen haben nicht enttäuscht.

Text: Manuel Tanzer